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Unabhängig von der besonderen historischen Situation läßt sich nationale Identität mit Giesen als eine "Konstruktion des Kollektiven im Spannungsfeld zwischen Kultur und Politik" (1) definieren. Nationale Identität ist demnach "immer auf kulturelle Identität angewiesen", und beide Formen kollektiver Identität teilen einige charakteristische Merkmale. Hervorzuheben sind besonders die Dialektik von Selbst- und Fremdwahrnehmung und hiermit verbundene Zuschreibungen, die keinesfalls objektiv nachweisbare Entsprechungen in der Wirklichkeit haben müssen. Im Gegenteil ist gerade der Fiktionscharakter kollektiver Identitätsmuster zu betonen, der u.a. die Entstehung von Gründungsmythen, (2) die Erfindung von Traditionen (3) und den Entwurf eines vorgeblichen Nationalcharakters begünstigt. Nicht selten werden solche Fiktionen mit Hilfe stereotyp wiederkehrender Argumentationsmuster (4) in unterschiedlichen Medien perpetuiert und tragen maßgeblich zur Stabilisierung des kollektiven Selbstverständnisses bei. Alle kollektiven Selbst- und Fremdbilder unterliegen einem kontinuierlichen Wandel, sind folglich als historisch unabgeschlossen zu betrachten.
Sowohl der prozessuale Charakter als auch die Indienstnahme kultureller, insbesondere literarischer Leistungen zum Zwecke der ideologischen Abgrenzung vom politischen Nachbarn lassen sich am Beispiel Großbritanniens veranschaulichen, das im Zeitraum zwischen 1660 und 1750 drei deutlich unterscheidbare Phasen nationaler Selbstkonstituierung durchlief. Der Prozeß kollektiver Selbstkonstitution und Selbstinterpretation vollzog sich in einem Feld vielfältiger Wechselbeziehungen miteinander vernetzter Texte: Die ausgewertete Sammlung umfaßt neben literatur- und kulturkritischen Zeugnissen sowie literarhistorischen Abhandlungen Auszüge aus identitätsbildend produktiven Texten im weitesten Sinne; hierzu gehören die dem literarischen Journalismus zuzurechnenden Moralischen Wochenschriften ebenso wie Reiseberichte, des weiteren Romane sowie insbesondere zeitgenössische Versdichtung. (5) Hinzu kommen historiographische, philosophische, theologische und frühe naturwissenschaftliche Abhandlungen. (6)
Im ersten Teil der Untersuchung wird der Gesamtverlauf der nationalen und kulturellen Identitätsbildung in England im angegebenen Zeitraum skizziert und hierbei nach dem Einfluß der jeweiligen sozio-kulturellen und politischen Rahmenbedingungen auf Veränderungen der Argumentationsweise gefragt; im zweiten Teil wird die historische Kontextualisierung der Befunde an einem Einzelbeispiel im Detail vorgeführt. Als 'roter Faden' dient eines der bereits erwähnten stereotypen Argumentationsmuster, dessen Wandlungsfähigkeit und Verflechtung mit Nachbartopoi in repräsentativer Weise Mechanismen kollektiver Identitätsbildungsprozesse verdeutlichen kann.
Um 1660 hat der Prozeß kultureller Emanzipation von ehemaligen Vorbildern in England bereits ein vergleichsweise fortgeschrittenes Stadium erreicht. So ist etwa die Frühphase, in der die Umstellung auf die Vulgärsprache als offizielle Schrift- und Literatursprache erfolgt und das Französische als Sprache des Hofes ebenso wie das Lateinische als Sprache der Kirche und der Universitäten abgelöst werden, spätestens mit dem Ende der Tudor-Zeit endgültig abgeschlossen. (7)
In den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rückt in der Restaurationszeit, mit der Rückkehr des Stuart-Königs Charles II aus dem Exil nach den Bürgerkriegswirren, die Abgrenzung vom unmittelbaren geographischen Nachbarn, dem europaweit kulturell dominanten Frankreich. Sie konzentriert sich zunächst auf das Feld der Literatur. Der hiermit verbundene Import eines ursprünglich innerfranzösischen Literaturstreits, der Querelle des anciens et des modernes, bedingt die Doppelgleisigkeit der Argumentationsführung auf englischer Seite, die sich von Anfang an sowohl gegenüber dem zeitgenössischen französischen Rivalen als auch gegenüber der von Frankreich (als angeblichem kulturellem Alleinerben) vereinnahmten griechisch-römischen Antike ins Verhältnis zu setzen sucht. Im Zeitraum bis zur Glorreichen Revolution (1688) wird noch relativ vorsichtig argumentiert: Es dominiert ein Egalitätsanspruch gegenüber Frankreich; seltener findet sich auch bereits der Anspruch einer Superiorität, die allerdings vorerst noch auf Einzelbereiche innerhalb des literarischen Feldes beschränkt bleibt. Im Vergleich hierzu wird antiken Autoren gegenüber im Kontext der von Frankreich auf England ausstrahlenden und Mitte der 90er Jahre ihrem Höhepunkt zustrebenden Querelle zunächst höchstens ein Egalitätsanspruch geltend gemacht, häufiger noch partielle Inferiorität eingestanden. (8) John Drydens fingiertes Streitgespräch der vier Freunde in seinem berühmten Essay Of Dramatic Poesy (1. Aufl. 1668) enthält bereits alle wichtigen Argumente, die in abgewandelter Form in zahlreichen Texten der Zeit zu finden sind: (9)
I acknowledge that the French contrive their plots more regularly, and observe the laws of comedy, and decorum of the stage [...] with more exactness than the English. Farther, I deny not [...] some irregularities of ours [...] yet, after all, I am of opinion that neither of our faults nor their virtues are considerable enough to place them above us. [...] though we are not altogether so punctual as the French, in observing the laws of Comedy, yet our errors are so few, and little, and those things wherein we excel them so considerable, that we ought of right to be preferred before them. [...] we endeavour therein to follow the variety and greatness of characters which are derived to us from Shakespeare and Fletcher; the copiousness and well-knitting of the intrigues we have from Jo[h]nson. (11)
Typisch für die Zeit bis 1688, aber ebenso beliebt auch noch in der Untersuchungsphase zwischen 1689 und 1714, ist außerdem der Versuch, die bestehenden kulturellen Hegemonialverhältnisse zu erschüttern, indem man einen als unvermeidlich hingestellten Paradigmenwechsel rhetorisch vorwegnimmt: Dies bedeutet konkret, daß man sich nicht mehr ohne weiteres den bisher allgemein anerkannten ästhetischen (oder sonstigen) Regeln unterwirft, sondern neue Bewertungsmaßstäbe ins Feld führt, die aus den einheimischen Gegebenheiten abgeleitet sind und an deren Einhaltung oder Nichteinhaltung künftig ausländische Leistungen gemessen werden sollen. In bezug auf Literatur etwa wird der französischen Regelpoetik ein neuartiges Ideal sogenannter Natürlichkeit sowie das Ideal der Vielfalt ("variety" etwa bezüglich der Dramenhandlungen, der Ereignisse, der Figuren) entgegengestellt, um englische Werke, besonders englische Dramen, für ein internationales Publikum aufzuwerten:
For the lively imitation of Nature being in the definition of a play, those which best fulfil that law ought to be esteemed superior to the others. 'Tis true, those beauties of the French poesy are such as will raise perfection heigher where it is, but are not sufficient to give it where it is not: they are indeed the beauties of a statue, but not of a man, because not animated with the soul of Poesy, which is imitation of humour and passions: [...] He that will look upon theirs [i.e. their plays, B.C.] which have been written till these last ten years [...] will find it an hard matter to pick out two or three passable humours amongst them. (12) [Hervorhebungen: B.C.]
Zwischen 1689 und 1714, während der Regierungszeiten des Oraniers William III und anschließend Queen Annes (1702-1714), verschärft sich der Ton: Das englische Ringen um die geistige und politische Vormachtstellung in Europa und Übersee (13) erhält verbale Verstärkung aus dem Feld zunehmend aggressiverer Rhetorik. Selbst vor Scheinlogik schreckt man nicht zurück, wenn es gilt, dem Ansehen des kulturellen Rivalen statt mit dem Schwert mit der Feder Schaden zuzufügen; die Zahl der Analogiebildungen zwischen arts and arms, historisch belegten militärischen Siegen der Engländer über die Franzosen und behaupteter englischer Überlegenheit auf dem Gebiet der Literatur, steigt in der zweiten Phase sprunghaft an und verdeutlicht die Aufgabe von Literatur im 17. und frühen 18. Jahrhundert als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.
Daß politischer, wirtschaftlicher und kultureller Wettstreit nahtlos ineinander übergehen, zeigt sich nicht zuletzt an der verwendeten Metaphorik, wie das folgende Beispiel demonstriert, in dem merkantilistischer Fachjargon auf das Feld der Literatur übertragen wird:
Hence the reason is perspicuous, why no French plays, when translated, have, or ever can succeed [sic] on the English stage. For, if you consider the plots, our own are fuller of variety; if the writing, ours are more quick and fuller of spirit; and therefore 'tis a strange mistake in those who decry the way of writing plays in verse, as if the English therein imitated the French. We have borrowed nothing from them; our plots are weaved in English looms [...]. (14) [Hervorhebungen: B.C.]
Mehr und mehr wird jetzt statt Ebenbürtigkeit englische Überlegenheit behauptet, die - einstweilen noch als eine auf Einzelaspekte beschränkte Teilüberlegenheit - ebenso häufig gegenüber Frankreich allein wie gegenüber Frankreich in Verbindung mit dem restlichen Kontinentaleuropa geltend gemacht wird. Dem seit der Renaissance unangetasteten klassischen Vorbild gegenüber bleibt die Zurückhaltung unverkennbar größer als gegenüber dem zeitgenössischen südlichen Nachbarn; der Umstieg von Gleichheits- zu Überlegenheitsrhetorik ist entsprechend verzögert. Für eine Übergangszeit bis zur völligen Umkehrung der Hegemonialverhältnisse wird deshalb bezüglich antiker Literatur ein Argument zwischengeschaltet, das die Autorität des Vorbildes schrittweise untergräbt, indem zunächst nur noch begrenzte Übertragbarkeit aufgrund kultureller Alterität oder partielle Superiorität zugestanden und mit angeblichen Mängeln auf Einzelgebieten 'begründet' wird:
I am for observing the Rules of Aristotle, as much as any Man living, as far as it can be done without re-establishing the Ancient Method. But because the Ancient Tragedies had little Love in them, that therefore ours must have little too; because the Ancient Tragedies had a Chorus, that therefore we must ridiculously ape them; this is what I cannot endure to hear of. (15)
I must in the first place observe, that our countrymen have so good an opinion of the ancients, and think so modestly of themselves, that the generality of pastoral-writers have either stolen all from the Greeks and Romans, or so servilely imitated their manners and customs, as makes them very ridiculous. (16)
Betrachtet man verschiedene Argumentationsstrategien der Zeit nebeneinander, so entpuppt sich das englische Kollektivbewußtsein in der zweiten Phase als überaus widersprüchlich und damit unter psychologischen Gesichtspunkten als besonders interessant: Auffallend ist die Haß-Liebe gegenüber dem französischen Nachbarn, von dem man sich einerseits in äußerst aggressiver Manier zu distanzieren sucht, auf den man andererseits aber zur Definition eines eigenen Nationalprofils in hohem Maße angewiesen ist. (17) Solange die internationale Anerkennung eines ästhetischen Paradigmenwechsels nach englischem Geschmack noch aussteht, ist man gezwungen, sich weiterhin an den französisch dominierten Maßstäben messen zu lassen, so daß man argumentativ eine Doppelstrategie verfolgt: Auf der einen Seite wird nach dem Prinzip des steten Tropfens, der den Stein schließlich doch höhlen wird, beharrlich weiter der seit der ersten Phase vorgeschlagene Paradigmenwechsel propagiert. Die Zahl der kulturellen Unabhängigkeitserklärungen nimmt deutlich zu und wird - ausgehend vom Bereich der Literatur - auf immer neue Felder kultureller Praxis ausgedehnt. Fanden sich zwischen 1660 und 1688 Frankreich-kritische Äußerungen in Verbindung mit einem partiellen englischen Superioritätsanspruch vorwiegend auf dem literarischen Sektor und eher selten im außerliterarischen Bereich, so verhält es sich in der zweiten Phase (1689-1714) umgekehrt; ein weites Spektrum natürlicher Erscheinungen und kultureller Aktivitäten wird für den englisch-französischen Wettstreit erschlossen und umfaßt so unterschiedliche Aspekte wie die militärische Schlagkraft der Soldaten, die Schönheit der Frauen und der Gärten, medizinisches Fachwissen, die Qualität von Lebensmitteln (Rüben, Gartengemüse, Brot), die Pracht der Hauptstädte, Größe der Privatbibliotheken, Anzahl der Kutschen, Qualität der Bäume (vor allem der Eichen) und der Navigationskunst, selbst klimatische und geographische Gegebenheiten. Hinzu kommt eine beispiellose Werbekampagne für das eigene Land, die sich unter dem Stichwort English is beautiful subsumieren ließe und eine umfassende Rückbesinnung auf die eigene Kultur in allen erdenklichen Einzelmanifestationen zur Folge hat (englische Schiffe, englische Wollhüte und englisches Rindfleisch eingeschlossen), nicht selten verbunden mit der expliziten Ankündigung, in Zukunft auf die kritiklose Nachahmung fremder Modelle zu verzichten. Ihre Zuspitzung findet die extensive Hinwendung zur eigenen, auch materiellen Kultur in der polemischen Inversion des verbreiteten Imitationsvorwurfs: Nicht die Engländer ahmen die Franzosen nach, sondern schon längst die Franzosen ihre mittlerweile überlegenen englischen Nachbarn:
I cannot say much of the meeting of these Gentlemen of the Acad. Royal. de Sciences, [...] They have endeavoured in the War time to have printed Monthly Transactions or Memoirs after the manner of ours in London [nur diese Hervorhebung: B.C.]; but could not carry them on above two Volumes or Years, for without great Correspondence this can hardly be done. And ours is certainly one of the best Registers that ever was thought on [...].
He shewed us his great Sash-Windows, how easily they might be lifted up and down, and stood at any height; which Contrivance of Pullies, he said, he had out of England [nur diese Hervorhebung: B.C.], by a small Model, brought on purpose from thence: There being nothing of this Poise in Windows in France before. He also had us into a Sett [sic] of small Closets or Rooms, after the English fashion, very prettily furnished, neatly kept, and retired [...]. (18)
Auf der anderen Seite häufen sich gerade in der zweiten Phase auch englische Stimmen, die - gewissermaßen quer zu den Emanzipationstopoi - weiterhin den Modellcharakter der bisherigen Leitkulturen (überwiegend Frankreichs, aber auch der Antike) in Einzelbereichen affirmieren und ihre Landsleute anspornen, an ausländischen Vorbildern zu wachsen, von ihnen zu lernen, um die eigene Emanzipation zu beschleunigen. (19) Sie beziehen sich nicht allein auf den literarischen Sektor (z.B. die Versdichtung, Tragödie und Literaturkritik), sondern auch auf andere Gebiete des kulturellen Lebens (etwa Musik, Medizin und Architektur); selbst Vorschläge zur Pflege der Nationalsprache im Rahmen einer staatlich geförderten Akademie nach französischem Vorbild werden laut.
Wie sehr die überkommenen ausländischen Wertmaßstäbe das kulturelle Selbstwertgefühl - zahlreichen gegenläufigen Beteuerungen zum Trotz - weiterhin mitbestimmen, läßt sich noch an zwei anderen in dieser Zeit nachweisbaren Argumentationsmustern ablesen: Denn die Unterstellung einer ausländischen Fehleinschätzung, 'Wir sind von aller Welt verkannt; niemand erkennt den wahren Wert unserer Kultur', impliziert ebenso wie die Behauptung einer Vorzeitigkeit, 'Wir haben schon lange im Verborgenen geblüht und ihr habt es nur nicht bemerkt', eine weiter bestehende Ausrichtung am fremden Maßstab, um internationale Anerkennung zu finden. So etwa, wenn man einerseits für das englische Blankversdrama wirbt, andererseits aber zugleich auch bezüglich des umstrittenen, als überlebt hingestellten französischen Versdramas eine englische Vorzeitigkeit geltend machen will (Vorzeitigkeitstopos),
[...] for the verse itself we have English precedents of elder date than any of Corneille's plays. Not to name our old comedies before Shakespeare, which were well writ in verse of six feet, or Alexandrines, such as the French now use [...]. (20)
oder, wenn einerseits die Eignung des Französischen als Sprache der Literatur in Zweifel gezogen, andererseits jedoch zum Beweis angeblicher englischer Sprachüberlegenheit weiterhin das französische Argument der Klangschönheit ins Feld geführt wird (Verkanntheitstopos):
At the same Time, that the French has been growing almost an universal Language, the English has been so far from diffusing itself in so vast a manner, that [...] a Man may travel o'er most of these Western Parts of Europe, without meeting with Three Foreigners, who have any tolerable Knowledge of it. And yet the English is more strong, more full, more sounding, more significant, and more harmonious than the French. (21)
Überhaupt bilden englische Äußerungen zum Thema Nationalsprache ein Kuriosum der besonders hitzigen Abgrenzungsphase um die Jahrhundertwende: Kaum 150 Jahre nachdem Engländer noch apologetisch die Verwendung der eigenen Muttersprache für literarische Zwecke hatten rechtfertigen müssen, häufen sich nun Aussagen, die die französische Sprache zu diskreditieren suchen, während die eigene über jeden Zweifel erhaben erscheint:
[the French and the Italian, B.C.] is not strung with sinews, like our English; it has the nimbleness of a greyhound, but not the bulk and body of a mastiff. Our men and our verses overbear them by their weight; and Pondere, non numero, is the British motto. The French have set up purity for the standard of their language; and a masculine vigour is that of ours. Like their tongue is the genius of their poets, light and trifling in comparison of the English; more proper for sonnets, madrigals, and elegies, than heroic poetry. (22)
Gerade die Lautstärke und Verbissenheit, mit der zwischen 1689 und 1714 englische Superiorität proklamiert wird, läßt darauf schließen, daß das kulturelle Selbstwertgefühl in England zwar deutlich gewachsen, jedoch keinesfalls schon gesicherter Bestandteil des kollektiven Selbstbildes ist. Das für die zweite Phase symptomatische Schwanken zwischen Überempfindlichkeit gegenüber ausländischer Kritik einerseits und teilweise ans Absurde grenzender Selbstüberschätzung andererseits (man ist versucht, den Bewußtseinsstand des englischen Kollektivs kurzfristig mit dem eines pubertierenden Jugendlichen zu vergleichen) bringt noch zwei weitere Argumentationsmuster hervor, welche die zeitspezifisch aggressive Grundtendenz verstärken: erstens, die Umdeutung ursprünglich negativ konnotierter Fremdbezeichnungen in positive Autostereotypen; (23) zweitens die rhetorische Raffinesse eines als 'Scheinkompliment' zu bezeichnenden Arguments, mit dessen Hilfe der bisherigen kulturellen Hegemonialmacht die zunächst scheinbar zugestandene gewohnte Reverenz in einer überraschenden Schlußwendung verweigert wird:
For, impartially speaking, the French are as much better critics than the English, as they are worse poets. Thus we generally allow, that they better understand the management of a war than our islanders; but we know we are superior to them in the day of battle. (24)
Einen vorläufigen Höhepunkt erreicht die abgrenzungsbewußte Polemik Englands gegenüber dem französischen Nachbarn in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts. Die Sättigungsgrenze im Sinne voller topischer Breite (ca. 45 verschiedene Argumentationsmuster umfassend) ist um die Jahrhundertwende erreicht. Zentral für die Abgrenzung nach außen (wie später zu zeigen, auch nach innen) wird von nun an die konfessionell untermauerte Antithetik von englischer Freiheit und französischer Tyrannei. Die Verquickung konfessioneller und politischer Perspektiven ("protestantism" und "liberty") mündet schließlich in die Behauptung, nur unter den 'freiheitlicheren' Lebensbedingungen einer konstitutionellen Monarchie könnten kulturelle Spitzenleistungen erbracht werden. Die kulturelle Identitätsbildung ist insofern deutlich von der Tagespolitik mitbeeinflußt: Sie trägt dazu bei, die Glorreiche Revolution von 1688 und die hiermit verbundene Festschreibung einer parlamentarisch beschränkten Monarchie zu legitimieren, die in England mit der Regierungsübernahme durch William III beginnt und auch noch von seinen Nachfolgern, Queen Anne und den Königen aus dem Hause Hannover, ideologisch genutzt wird. (25)
In der dritten untersuchten Phase, dem Zeitraum zwischen 1714 und der Mitte des 18. Jahrhunderts, der sich in etwa mit der Regierungszeit von George I (1714-27) und George II (1727-60) deckt, verfestigen sich die beschriebenen Tendenzen, und doch gibt es auch neue Entwicklungen. Zwar wird weiterhin die behauptete kulturelle Überlegenheit aus der besonderen politischen und gesellschaftlichen Verfaßtheit des eigenen Landes abgeleitet, doch weicht die aggressive einer deutlich gelasseneren Grundhaltung. Letztere erlaubt es, immer häufiger auf einen einzelnen, negativ instrumentalisierten ausländischen Vergleichspartner völlig zu verzichten: So finden sich etwa für die Behauptung partieller Superiorität gegenüber Frankreich nur noch wenige, ohne explizite Nennung eines bestimmten kulturellen Rivalen hingegen zahlreiche Textbelege. Die einseitige Distanzierung von Frankreich wird durch eine alle kontinentaleuropäischen Länder einschließende vergleichende Optik ersetzt:
I conclude with the English Genius, wherein they yield to no Nation in Europe. None has been more industrious to improve the Mechanick Arts; and the World, to this Day, is obliged to 'em for many of their useful Inventions and Discoveries.
[...]
As to Liberal Arts, where shall one find a People so generally knowing? Here Experimental Philosophy is improved to a Wonder, and no foreign Church is better stock'd with Divines than England is, which makes their learned works so much in request beyond Sea. [...] To have great Men in all Professions, England has the greatest Help, viz. two famous Universities, not to be match'd in Europe; an infinite Number of learned Men, and a World both of publick and private Libraries. (26) [Hervorhebungen: B.C.]
For Solidity of Matter, for Elegancy of Stile, the Methods in their Sermons, Comedies, Romances and also in their Books of Divinity, Philosophy, Physick, History, and all other solid Learning, no other Nation hath surpassed, and few equalled them [i.e. the English, B.C.]. (27)
Gehäuft finden sich diverse Ausprägungen des Translations- und Nachfolgetopos, die nicht mehr wie früher kulturelle Egalität, sondern englische Superiorität, nun auch im Verhältnis zur Antike, behaupten. Sehr beliebt in diesem Zusammenhang ist das Bild der nordwärts wandernden Musen:
While Athens glory'd in her free-born race,
And science flourish'd round her fav'rite place;
The Muse unfetter'd trod the Grecian stage;
Free were her pinions, unrestrain'd her rage;
Bold and secure, she aim'd the pointed dart,
And pour'd the precept poignant to the heart,
Till dire Dominion stretch'd her lawless sway,
And Athens' sons were destin'd to obey.
Then, first, the stage a licenc'd bondage knew,
And tyrants quash'd the scene they fear'd to view;
Fair Freedom's voice no more was heard to charm,
Or Liberty the Attic audience warm.
Then fled the Muse indignant from the shore,
Nor deign'd to dwell where Freedom was no more.
Vain, then, alas! she sought Britannia's isle,
Charm'd with her voice, and cheer'd us with her smile.
If Gallic laws her gen'rous flight restrain,
And bind her captive with th' ignoble chain. (28)
Hinzu kommt das Argument, als Nachgeborene hätten die Engländer zwar nur auf Leistungen älterer Kulturen aufgebaut, dafür sei die Ausführung in der Gegenwart entscheidend verbessert und habe eine unvergleichliche kulturelle Blüte ausgelöst. Angesichts der zunehmenden politischen Bedeutung und wirtschaftlichen Expansion Englands kann es kaum verwundern, daß ab 1714 neben den geistigen, insbesondere literarischen Wettbewerb mit der Antike (translatio studii) zunehmend auch der politische (im Sinne einer translatio imperii) tritt:
Wherein had the Romans the Advantage over us Englishmen? Are not our Privileges, our Rights, our Immunities, as great as ever were theirs? Are we not, to all Intents and Purposes, as free a People? Are we not as Brave? Do we not equal them in all the Arts and Embellishments of Life? Is not even our Wit and Eloquence upon an Equality with theirs? In Navigation, in Trade, in Manufactures, and the several Means of acquiring Wealth, and furnishing our selves with the Products of distant Countries, they came far short of us. Then as to our Religion, it is far beyond theirs, as the Wisom of God is superior to the Inventions of Men. (29) [Hervorhebungen: B.C.]
In rhetorischer Antizipation des künftigen Kolonialreiches erklärt sich das augusteische England zum würdigsten Erbberechtigten des antiken Weltimperiums, so etwa, wenn in James Thomsons Gedicht Liberty (1736) der Genius of the Deep, eine Meeresgottheit, im Gespräch mit der Göttin der Freiheit an den Gestaden der britischen Insel die folgenden Worte spricht:
Long I maintained inviolate my reign;
Nor Alexanders me, nor Caesars braved.
Still in the crook of shore the coward sail
Till now low crept; and peddling commerce plied
Between near joining lands. For Britons, chief,
It was reserved, with star-directed prow,
To dare the middle deep, and drive assured
To distant nations through the pathless main. (30)
Nach einem ersten Abgrenzungsschub gegenüber den zeitgenössischen Nachbarn büßen in einem zweiten Schritt jetzt also auch die alten Griechen und Römer an Vorbildhaftigkeit ein, nachdem sie seit der Renaissance ununterbrochen zur qualitativen Legitimierung englischer Kulturleistungen gedient hatten. (31) Die Antike verliert zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunächst in politischer Hinsicht an Attraktivität, während England sich in kultureller Hinsicht weiterhin bemüht, als wahrer Erbe des alten Roms zu gelten - letzteres wieder in Rivalität zu Frankreich, unter Einsatz der Differenzierung, die Engländer seien die Erben der Antike im Geiste, im Gegensatz zu den Franzosen, die denselben Anspruch durch sklavische Buchstabentreue (im Sinne einer Regelpoetik) vergeblich zu erfüllen suchten. (32) Zur Jahrhundertmitte hin wird dann auch immer häufiger auf die Aufwertung englischer Autoren durch Bezeichnungen wie 'englischer Homer' oder 'englischer Vergil' verzichtet und statt dessen unabhängig hiervon auf ihren Eigenwert und Modellcharakter für andere Nationen verwiesen.
Generell läßt sich in britischen Selbstdarstellungen nach 1714 eine zunehmende Verlagerung des Blicks nach innen beobachten. Sie bewirkt auch eine Intensivierung des bereits seit dem 16. Jahrhundert stetig zunehmenden Interesses an synthetisierenden Überblicksdarstellungen; diese umfassen sowohl national ausgerichtete Gesamtentwürfe im Feld der politischen Geschichte als auch im Feld der Literatur (in Prosa und Vers, in Form des gelehrten Diskurses und von Dichtung). (33) Die Entdeckung der historischen Dimension für die nationale Identitätsbildung manifestiert sich in Vorschlagslisten für Anfangs- und Endpunkte sowie vorläufige Höhepunkte von Epochen, in progressiven Verlaufsentwürfen, die zukünftige Größe bereits rhetorisch vorwegnehmen, in der Bestimmung unterschiedlichster 'Gründungsväter' für eine genuin englische Literatur, in der Rechtfertigung von gattungsbezogenen Leerstellen, in der Aufzählung kanonisierungswürdiger Dichter und ihrer internen Hierarchisierung.
Die Betonung der Einzigartigkeit der eigenen Literatur, die Konstruktion einer heimischen, bisher nicht ausreichend gewürdigten oder als solche wahrgenommenen literarischen Tradition, erlebt in der dritten Phase einen Höhepunkt. Ähnlich verhält es sich mit einem verwandten Argument, dem literaturbezogenen 'kategorischen Superlativ', der britischen Schriftstellern ohne nähere Begründung Spitzenpositionen sowohl im landesweiten als auch im internationalen Vergleich zuschreibt. Dabei wird immer weiter in die eigene Vergangenheit zurückgegriffen, um Persönlichkeiten vor dem kollektiven Vergessen zu bewahren, die zur Verfestigung des gewandelten, nunmehr national definierten kulturellen Selbstverständnisses funktionalisiert werden können. Hierzu eignen sich neben Schriftstellern natürlich auch Staatsmänner, Heerführer und Könige, Architekten und Maler, Philosophen, Historiker, Gelehrte jeglicher Fachrichtung, nicht zuletzt auch Entdecker und Erfinder. Die außerliterarische Variante des 'kategorischen Superlativs' verzeichnet in der dritten Phase ebenfalls ihren Höchstwert.
Innergesellschaftlich kommen der englischen Literatur mit steigendem Ansehen neue Aufgaben zu; nicht selten eilt sie voraus und prägt Argumentationsstrukturen vor, die anschließend von verschiedenen anderen Textgattungen (etwa im Feld der Historiographie oder der Landschaftsästhetik) aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Bereits in der zweiten untersuchten Phase wurde ihr nicht selten eine konkrete Stützfunktion zur Beförderung einzelner, noch entwicklungsfähiger oder als entwicklungsbedürftig angesehener kultureller Einzelbereiche beigemessen:
For whether we look upon the Ancients or Moderns; whether we consider the Athenians or Romans, or the French, or Ourselves, we shall find that Arts and Science, have, for the most Part, [...] begun to prosper, with the Stage; and that, as they have flourish'd, they have at last declin'd with it. And this we may affirm, not only of the more Humane Arts, Poetry, History, Eloquence, of which the Theatre, is certainly the best School in the World [...] but we may truly assert it of all other sorts of Learning [...]. (34)
Am Ende der dritten Phase steht dann die kühne These, manche mittlerweile international prestigeträchtig gewordenen Felder kultureller Praxis verdankten ihre Existenz überhaupt erst der Wegbereitung durch Repräsentanten einer (genuin englischen) Literatur: (35)
It hence appears that this enchanting art of modern gardening, in which this kingdom claims a preference over every nation in Europe, chiefly owes its origin and its improvements to two great poets, Milton and Pope. (36)
Im außerliterarischen Bereich nehmen zur Mitte des 18. Jahrhunderts hin die schmeichelhaften kollektiven Selbstdeutungen nicht selten eine leicht irrationale Tönung an, etwa, wenn die göttliche Auserwähltheit Britannias (als Beherrscherin der Weltmeere und Befreierin unterjochter Völker) bemüht wird, um frühimperialistische Ambitionen zu beschönigen. Entsprechend wird der seit 1689 wichtigste politisch-kulturelle Leitbegriff, liberty, schrittweise durch neue Schlüsselwörter wie commerce und (fair) trade ergänzt und das kulturelle Selbstbewußtsein zur moralischen Legitimation des entstehenden Welthandelsimperiums genutzt.
Angesichts der herausragenden Leistungen Großbritanniens auf dem Gebiet der sich allmählich ausdifferenzierenden modernen Naturwissenschaften werden auch ältere, auf die Nationalsprache bezogene Argumente wiederaufgenommen und modifiziert: über den Bereich der Schrift- und Literatursprache hinausgehend wird für das Englische nun zusätzlich der Status einer gleichberechtigten 'Sprache der Wissenschaften' eingefordert und die Bereitschaft zur Übersetzung ins Lateinische für das internationale Gelehrtenpublikum aufgekündigt:
By this it appears, that a consideble [sic] Benefit to the Kingdom in general, may arise from publishing Books of Physick in English, and but little Detriment can attend it, if compar'd with the Advantages and extensive Good, that may arise from it.
[...]
But if a Crime thy Native Tongue be thought,
Say, - Thus HIPPOCRATES and CELSUS wrote.
Great Guides! Whose pure Simplicities excel
The puzzling Pride of Latinizing well.
Then may the Judging Few in this agree,
ENGLISH and SENSE shou'd of the World be free. (37)
Der Nationalstolz nach 1714 geht so weit, sogar von Briten verfaßten Übersetzungen ausländischen Schrifttums ins Englische zunehmend häufiger Überlegenheit gegenüber den fremden Originalen einzuräumen:
You, my Lord, know how the works of Genius lift up the Head of a Nation above her Neighbours, and give it as much Honour as Success in Arms; among these we must reckon our Translations of the Classics, by which, when we have naturalised all Greece and Rome, we shall be so much richer than they were, by so many original Productions as we shall have of our own. (38)
The translation of the Letters of Abelard and Heloise was so well received by the Publick, that there have been five Editions of it in the Compass of a few years [...] It is indeed not easy to determine which is most to be admired, the Author, or the Translator [...] (39)
Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum sogenannten 'Einverleibungstopos', der sich in der dritten Phase ebenfalls steigender Beliebtheit erfreut. Die eigene kulturelle Überlegenheit, so wird argumentiert, sei u.a. gerade auch darauf zurückzuführen, daß England bei seinen Nachbarn erfolgreich in die Lehre gegangen und die verschiedensten Fremdeinflüsse produktiv in sich aufgenommen habe:
We have excell'd the very Nations, from which we have taken them. And tho' we are esteem'd by our Neighbours to be but very indifferent Inventors, we are very justly thought by them to be the greatest Improvers in the World. (40)
Das zwischen 1660 und 1750 beträchtlich gestiegene Selbstwertgefühl der Engländer führt schließlich zur totalen Umkehrung des Konzepts von 'Lehrling und Lehrherrn', ganz besonders im Verhältnis zur ehemaligen kulturellen Vormacht Frankreich. Was für Blüten die kollektive, nationalkulturell definierte Selbstdeutung mit Hilfe von Literatur auch noch weitere 100 Jahre nach dem vorläufigen Schlußpunkt der vorliegenden Untersuchung treiben wird, läßt das folgende Zitat ahnen, mit dessen Hilfe sich die zur Weltmacht aufgestiegene Insel zusätzlich zu ihren zahllosen geographischen Einflußzonen rückwirkend eine Scheibe vom Ruhm des bedeutendsten Ereignisses der jüngeren abendländischen Geschichte einzuverleiben sucht:
[...] the French have not only borrowed from us some very valuable political institutions, but even the most important event in French history is due, in no small degree, to our influence. Their Revolution of 1789 was, as is well known, brought about, or, to speak more properly, was mainly instigated, by a few great men, whose works, and afterwards whose speeches, roused the people to resistance; but what is less known and nevertheless is certainly true, is that these eminent leaders learnt in England that philosophy and those principles by which, when transplanted into their own country, such fearful and yet such salutary results were effected.
[...]
It is no doubt certain, that the French Revolution was essentially a reaction against that protective and interfering spirit which reached its zenith under Louis XIV., but which, centuries before his reign, had exercised a most injurious influence over the national prosperity. While, however, this must be fully conceded, it is equally certain that the impetus to which the reaction owed its strength, proceeded from England, and that it was English Literature which taught the lessons of political liberty, first to France, and through France to the rest of Europe. (41) [Hervorhebungen: B.C.]
Vergleicht man die im ersten Teil der Untersuchung kommentierten Argumentationsmuster, so fällt auf, daß einige zeitlich beschränkt, d.h. nur in Einzelphasen, andere hingegen in mehreren oder gar allen Untersuchungsphasen nachweisbar sind. Die letztgenannten sind nicht nur deshalb von besonderem Interesse, weil sie - in Anpassung an wechselnde historisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen - verschiedene Transformationen durchlaufen; vielmehr auch, weil sie dabei zahlreiche Querverbindungen zu Nachbartopoi eingehen und sich die für den gesamten Untersuchungszeitraum typische Verknüpfung mehrerer Einzeltopoi zu komplexen Argumentationszusammenhängen an ihnen besonders gut zeigen läßt.
Von zentraler Bedeutung für die kollektive Identitätssuche Englands und folglich in allen Phasen vertreten ist der Entwurf eines distinktiven Nationalcharakters. Dabei handelt es sich keinesfalls um ein für alle Zeiten festgelegtes Bündel unveränderlicher Merkmale; vielmehr verdeutlichen gerade die von Phase zu Phase wechselnden Inhalte den Konstruktcharakter dieses Gebildes. Es ist somit einer Gruppe von Argumentationsmustern zuzurechnen, die man Wandertopoi nennen könnte und die dadurch gekennzeichnet sind, daß ein konstant bleibendes, wiedererkennbares rhetorisches Grundgerüst jeweils um unterschiedliche, dem veränderten gesellschaftlichen Kontext angepaßte Stützargumente ergänzt wird.
Typisch für die erste hier untersuchte Phase nationaler Identitätsbildung ist eine noch vorwiegend völkerpsychologisch begründete Abgrenzung von Nachbarländern, besonders von Frankreich, unter Einbezug aller möglichen Hilfskonstruktionen wie etwa der Humoralpathologie, landsmannschaftsbezogener Stereotypensammlungen und pseudowissenschaftlicher Konzepte wie der Klimatheorie. Dabei schreiben sich die Engländer positiv konnotierte Charaktereigenschaften zu, die einem ritterlich geprägten Männlichkeitsideal entsprechen, wie etwa eine gewisse Maskulinität einschließlich Mut, Kampfeswillen, verbunden mit der notwendigen Durchsetzungskraft, Vitalität und Dynamik (strength, vigour); (42) zusätzlich Eigenschaften, die mit einer verfeinerten Zivilisationsstufe assoziiert werden können, also im weiteren Sinne dem Gentleman-Ideal zuzuordnen sind: wit, (43) nicht ohne weiteres mit einem fremdsprachlichen Äquivalent übersetzbar, gehört ebenso dazu wie ein gewisses Maß temperamentsmäßiger Ausgeglichenheit (good nature) und Großherzigkeit (generosity). Ebenso wichtig ist der vielfältig ausdeutbare humour, (44) der auch individuelle Verschrobenheiten bis hin zu Extravaganzen im Allgemeinverhalten einschließt und von Fremden angeblich leicht als Negativum mißverstanden werden kann. Kontrastiv werden den südlichen Nachbarn (neben Frankreich gelegentlich auch Spanien und Italien) eine gewisse Effeminiertheit, Eitelkeit, Oberflächlichkeit und Neigung zu 'Wortgeklingel' unterstellt.
Von diesem überaus beliebten Grundtopos (45) eines variabel begründbaren englischen Nationalcharakters leiten sich im Laufe der Zeit diverse Nebentopoi ab, die erst in der zweiten Untersuchungsphase (also zwischen 1689 und 1714) ihre eigentliche Hochkonjunktur erleben:
Eine Scharnierstelle zwischen der noch vorwiegend völkerpsychologisch argumentierenden Bestimmung des Nationalcharakters und der nach 1689 zunehmend beliebteren (im ersten Untersuchungsteil bereits erörterten) Konstruktion eines Kausalzusammenhangs zwischen konstitutioneller Monarchie und kultureller Blüte findet sich in Sir William Temples Essay, Of Poetry (1690). Aufbauend auf traditionelle Nationaltugenden wie Stolz und Tapferkeit, konstruiert Temple erstmals einen Zusammenhang zwischen (klimatologischen und geographischen) Umweltfaktoren, politischen Rahmenbedingungen und literarischen Sonderentwicklungen und erhebt die nunmehr politisch akzentuierte Freiheitsliebe zu einem integralen Bestandteil des englischen Wesens:
But as of most general Customs in a Country there is usually some Ground from the Nature of the People or the Clymat, so there may be amongst us for this Vein of our Stage, and a greater variety of Humor [sic] in the Picture, because there is greater variety in the Life. This may proceed from the Native Plenty of our Soyl, the unequalness of our Clymat, as well as the Ease of our Government, and the Liberty of Professing Opinions and Factions, which perhaps our Neighbours may have about them, but are forced to disguise, and thereby they may come in time to be extinguish't. Plenty begets Wantonness and Pride: Wantonness is apt to invent, and Pride scorns to imitate. Liberty begets Stomach or Heart, and Stomach will not be Constrained. Thus we come to have more Originals, and more that appear what they are: we have more Humour, because every Man follows his own, and takes a Pleasure, perhaps a Pride, to shew it. (49) [Hervorhebungen: B.C.]
Gestützt wird Temples Rekonstruktion des englischen Nationalcharakters durch die ab der zweiten Untersuchungsphase verbreitete Tendenz zur Umdeutung negativer Fremdzuschreibungen in positive Autostereotypen: Gerade weil die Engländer wilder, d.h. auch unbezähmbarer und ursprünglicher seien als ihre französischen Nachbarn, so lautet etwas später bei Alexander Pope das Argument, verfügten sie auch über einen 'natürlichen' Widerwillen gegenüber Despotismus und Fremdherrschaft. In seinem Essay on Criticism rekurriert Pope implizit auf das traditionelle Feindbild vom unkultivierten englischen Barbaren, wenn er mit Hilfe des Adjektivs uncivilized britische Wehrhaftigkeit gegenüber literarischen Fremdeinflüssen und historisch weit zurückliegende militärische Erfolge englischer Landesverteidigung in Parallele setzt und zu einem selbstbewußten Bekenntnis zu politischer und kultureller Eigenständigkeit verbindet:
But soon by Impious Arms from Latium chas'd,
Their ancient Bounds the banish'd Muses past;
Thence Arts o'er all the Northern World advance,
But Critic Learning flourish'd most in France:
The Rules, a Nation born to serve, obeys,
And Boileau still in Right of Horace sways.
But we, brave Britons, Foreign Laws despis'd,
And kept unconquer'd, and unciviliz'd,
Fierce for the Liberties of Wit, and bold,
We still defy'd the Romans, as of old. (50)
Wird dieses Argument zunächst vorwiegend in literaturkritischen und literarischen Texten genutzt, um englische Literatur vom französischen Paradigma der klassizistischen Regelpoetik zu befreien, so läßt sich nach der Jahrhundertwende zunehmend auch eine allgemeinere Verwendung in anderen Medien, etwa den Moralischen Wochenschriften, beobachten:
Amongst these may be reckoned the ancient Inhabitants of the Northern Parts of Europe, out of which in different Ages have gushed those mighty swarms of Goths, Vandals, Saxons, Angles, Franks, Huns, Danes, and Normans, which subdued all the Western Parts of Europe. The grand Northern HIVE from whence they came, has by some Authors been stiled Officina Gentium, the Shop of Nations; and might with as much Justice have been called Officina Libertatis, the Shop of Liberty. For wherever those People settled, they established a Government of Liberty, and shew'd themselves to be greater Masters of the great Secret of Governing All by All, than those Nations that had given them the opprobrious Name of Barbarous; and as they were all joint Adventurers in their military Expeditions, so all had a share in their Civil Government and the Lands they conquered. (51)
Das Zitat aus dem Englishman von 1713 macht nicht nur deutlich, wie im Verlaufe der Reinterpretation des englischen 'Barbarentums' ursprünglich negativ konnotierte Adjektive wie "uncivilized", "gothick" und "barbarous" ihre ursprünglichen Bedeutungen verlieren und zu einem neuen, relativ vagen Feld positiver Konnotationen verschmelzen; ebenso aufschlußreich ist die Reinterpretation der kollektiven Vergangenheit unter Verwendung einer neuartigen Translatio-Vorstellung, welche die angeblich nationale Tugend der englischen Freiheitsliebe zur Abgrenzung sowohl von der älteren als auch der zeitgenössischen südeuropäischen Hochkultur, von den alten Römern ebenso wie von den Franzosen, funktionalisiert. Anders als die althergebrachte, auf das antike Griechenland bzw. Rom bezogene Translationsvorstellung stützt sich die neue auf eine genuin nordeuropäische, weit in die Vergangenheit zurückreichende Tradition im Feld der Verfassungsgeschichte.
Wie ein Echo zum politisch freiheitlichen Northern Hive von 1713 erscheint James Thomsons "parental hive" im folgenden Zitat aus dem Jahre 1736, gesprochen von der Göttin der Freiheit, Schutzpatronin Englands:
'Thence the loud Baltic passing, black with storm,
To wintry Scandinavia's utmost bound -
There I the manly race, the parent hive
Of the mixed kingdoms, formed into a state
More regularly free. By keener air
Their genius purged, and tempered hard by frost,
Tempest and toil their nerves, the sons of those
Whose only terror was a bloodless death,
They, wise and dauntless, still sustain my cause.
Yet there I fixed not. Turning to the south,
The whispering zephyrs sighed at my delay'.
Here, with the shifted vision, burst my joy:
'O the dear prospect! O majestic view!
See Britain's empire! lo! [...] (52) [Hervorhebungen: B.C.]
Beide Zitate deuten darauf hin, daß etwa ab 1714 nunmehr eher politisch begründete Bestimmungsversuche hinsichtlich des englischen Nationalcharakters zugleich auch mit einer umfassenden Geschichtsdeutung verbunden werden, die in mythisierender Absicht auf die wiederentdeckten nordischen Ursprünge zurückgreift. (53) Die Bestimmung des Nationalcharakters wird mit der Erfindung eines ethnisch fundierten germanischen Abstammungsmythos verschränkt. Die Tatsache, daß unter Sammelbegriffen wie barbarous und gothic (54) jegliche Art germanischer Vorfahren (einschließlich der Angeln und der Sachsen) je nach Bedarf auch die skandinavischen (Danes) und bretonischen (Normans), und, wie noch zu zeigen, selbst die keltischen Vorfahren der Engländer subsumiert werden können, verdeutlicht einmal mehr die Flexibilität oder anders ausgedrückt, den Fiktionscharakter kollektiver Identitätsentwürfe, die in permanenter Anpassung an veränderliche zeithistorische und individuelle Bedürfnisse aktualisiert werden.
Aus diesem Grunde wird das Idiologem der englischen Freiheit in den Jahrzehnten nach der Glorreichen Revolution immer häufiger auch mit der konfessionellen Zugehörigkeit zum Protestantismus gleichgesetzt; (55) dynastische Polarisierungen, die auch nach 1714 immer wieder für Unruhe sorgten - man denke etwa an die katholischen Kronprätendenten aus dem Hause Stuart, die weiterhin von Frankreich und Irland aus den politischen und sozialen Frieden im Lande gefährdeten - verstärkten diese Tendenz, wie die folgende Kommentierung des noch andauernden ersten Jakobitenaufstandes in einem Artikel der Zeitschrift The Englishman von 1715 zeigt; die Verschmelzung von nationalem und konfessionellem Zugehörigkeitsgefühl gipfelt in der Gleichsetzung politischer Freiheit und religiöser Identität mit dem Menschsein schlechthin:
This shows us what we are to expect will inevitably befal us, in Case the Pretender should succeed; but to animate and enflame us against him, and all his Abettors, we are told also, what present Blessings we ar to lose by such an Event; and it is justly represented, that the present Rebellion is undertaken [...] To deprive Us of such a King; and, with Him, of a Prince, whose Noble Passion for the True Interest of this Nation, makes His Name Dear to every True Britain, and every True Protestant [...] And, what is this, in other Words, but, to deprive Us of every present Good, and every future Hope, of Protestants, Britains, and Men? (56)
Die Instrumentalisierung protestantischer Glaubenszugehörigkeit zur Bestimmung nationaler Zugehörigkeit dient jedoch nicht nur zur Ausgrenzung von in Großbritannien ansässigen Interessengruppen, die mit dem katholischen Erzfeind Frankreich angeblich oder tatsächlich gemeinsame Sache machen; vielmehr bildet sie im Jahr nach der Thronbesteigung des ersten Hannoveraners, George I, zugleich eine willkommene Möglichkeit zur Naturalisierung eines aus dem europäischen Ausland importierten Königs, der weder mit der englischen Sprache noch der englischen Kultur vertraut und deshalb nicht ohne weiteres integrierbar war. (57)
Die Notwendigkeit, das eigene Selbstbild nicht nur zum Zwecke der Abgrenzung nach außen, sondern auch im Dienste der Integration nach innen immer wieder zu verändern, verhilft nach 1715 einer terminologischen Modifikation zum Durchbruch, die während der zweiten untersuchten Phase erst vereinzelt zu beobachten war. Anders als in früheren Bestimmungsversuchen, die ausnahmslos Entwürfe eines explizit englischen Nationalcharakters anboten, (58) kommt nach der weitgehenden Abtretung staatlicher Souveränität Schottlands an seinen südlichen Nachbarn im Jahre 1707 (Union of Parliaments) alternativ die Verwendung des Adjektivs British in Umlauf. Daß unter diesem neuen Dach je nach regionaler Sonderidentität des Sprechers recht unterschiedliche Konzepte Platz finden, zeigen die divergierenden Konnotierungen von Britishness bei englischen und schottischen Anwendern: Für die meisten Engländer spielt der politische Anschluß der mit Mißtrauen beäugten armen Nachbarn und ehemaligen politischen Widersacher im Norden in kultureller Hinsicht keine Rolle, so daß sie British meist als Synonym für English verwenden. (59) Für die Betroffenen selbst hingegen, in der vorliegenden Textsammlung u.a. durch den Dichter James Thomson repräsentiert, ist das neue Konzept nicht selten mit der Hoffnung verbunden, als Belohnung für die Abtretung der politischen Unabhängigkeit eine schottische Partizipation am mittlerweile erblühten gesamtbritischen Überseeimperium zu erreichen, ohne deshalb die eigene regionale, stärker kulturell definierte Identität vollkommen aufgeben zu müssen. (60)
So stimmt Thomson begeistert in jenes Loblied zur Ehre eines von der göttlichen Vorsehung auserwählten Volkes ein, das in England bereits im 16. und 17. Jahrhundert einen Gemeinplatz bildete und 1701 von William Temple mit politischen Implikationen reaktiviert worden war. (61) Während Temple zu seiner Zeit jedoch unter dem Eindruck noch stark in Bewegung befindlicher Machtverteilungskämpfe in Europa eher eine politische Führungsrolle Englands anstrebte ("destined by God and Nature [...] to give laws, or ballance at least, to all their neighbours abroad"), verlagert sich bei dem schottischstämmigen Thomson das Interesse zunehmend auf die ökonomischen Gewinnmöglichkeiten eines in den schönsten Farben entworfenen britischen Handelsimperiums:
[...] Theirs the triumph be,
By deep invention's keen pervading eye,
The heart of courage, and the hand of toil,
Each conquered ocean staining with their blood,
Instead of treasure robbed by ruffian war,
Round social earth to circle fair exchange
And bind the nations in a golden chain.
The winds and seas are Britain's wide domain,
And not a sail but by permission spreads.
'Lo! swarming southward on rejoicing suns
Gay colonies extend - [...]
[...]
Not built on rapine, servitude, and woe,
And in their turn some petty tyrant's prey,
But, bound by social freedom, firm they rise;
Such as, of late, an Oglethorpe has formed,
And, crowding round, the charmed Savannah sees. (62)
[Hervorhebungen: B.C.]
Daß Thomson trotz seiner politisch-ökonomischen Integrationsbemühungen an der Bewahrung einer kulturellen Sonderidentität gelegen ist, erkennt man nicht nur an zahlreichen kleinen Exkursen, die etwa in The Seasons auf die besonderen Qualitäten Schottlands und seiner Bewohner abheben (63); noch deutlicher zeigt sich dieses Interesse in einem nationalen Geschichtsentwurf im vierten Teil von Liberty, mit dessen Hilfe er deutlich um die Sympathien seiner englischen Leser für die besonderen Verdienste der schottischen Nachbarn wirbt, die diese im Verlaufe der gemeinsamen Geschichte - interpretiert als ununterbrochener Kampf um den Erhalt der politischen Freiheit - erworben hätten:
'Now turn your view, and mark from Celtic night
To present grandeur how my Britain rose.
'Bold were those Britons, who, the careless sons
Of nature, roamed the forest-bounds [...]
And the gay circle of their woodland wars:
For by the Druid taught, that death but shifts
The vital scene, they that prime fear despised;
[...]
Erect from nature's hand, by tyrant force
And still more tyrant custom unsubdued,
Man knows no master save creating heaven,
Or such as choice and common good ordain.
This general sense, with which the nations I
Promiscuous fire, in Britons burned intense,
Of future times prophetic. Witness, Rome,
Who saw'st thy Caesar from the naked land,
Whose only fort was British hearts, repelled,
To seek Pharsalian wreaths.Witness the toil,
The blood of ages, bootless to secure
Beneath an empire's yoke a stubborn isle,
Disputed hard and never quite subdued.
The north remained untouched, where those who scorned
To stoop retired; and, to their keen effort
Yielding at last, recoiled the Roman power. (64)
[Hervorhebungen: B.C.]
In Thomsons Darstellung verkörpern die Schotten nicht nur einige der wichtigsten englischen - bei ihm nun als gesamtbritisch interpretierten - Nationaltugenden in Reinform: männliche Kühnheit, eine ursprüngliche, nicht durch zivilisatorische Verfeinerung korrumpierte Wehrhaftigkeit und Tapferkeit sowie vor allem die Freiheitsliebe. Am Ende entsteht vielmehr der Eindruck, der römische Rückzug von der britischen Insel im 4. Jahrhundert moderner Zeitrechnung verdanke sich ausschließlich den 'Britons of the North' als frühesten Beschützern der heimischen Freiheit gegenüber ausländischen Fremdherrschaftsansprüchen. (65)
Die Dringlichkeit solcher ideologischer Werbefeldzüge für die nördlichen Neu-Briten im Feld der Literatur, auch noch lange nach der offiziellen politischen Zusammenführung beider Königreiche, zeigt ein erneuter Blick in zeitgenössische Wochenschriften, in denen die Zugehörigkeit Schottlands zum gesamtbritischen Reich noch keinesfalls als selbstverständlich erscheint. Dabei wird deutlich, in welchem Maße die innenpolitische Umstrukturierung zum United Kingdom zugleich unter dem Vorzeichen weiterschwelender außenpolitischer Konflikte steht, etwa angesichts der vom katholischen Frankreich und von Irland aus aggressiv vertretenen Thronansprüche der Stuart-Dynastie: Die Folge ist, daß im (parteilich den Whigs nahestehenden) Englishman ab 1713 auch die nationale Zugehörigkeit neuer Mitgliedsanwärter im Vereinten Königreich grundsätzlich an die konfessionelle Zugehörigkeit zum Protestantismus gebunden wird:
When I say an Englishman, I mean every true Subject of her Majesty's Realms, the Briton of the North as well as he of the South; and know no Reason for saying Englishman instead of Scotsman, but that the latter Appellation is drawn into the former from the Residence of the Queen in the Southern Part of Great Britain.
[...]
The King at his Coronation does solemnly promise and swear, to govern the People of this Kingdom of England, and the Dominions thereunto belonging, according to the Statutes in Parliament agreed on, and the Laws and Customs of the same [...] and the Protestant Reformed Religion as established by Law [...]. (66)
Wie unverzichtbar die Verbindung von politischer Freiheit mit konfessioneller Zugehörigkeit zum Protestantismus ist, zeigt die abweichende Behandlung des anderen zunehmend virulent werdenden britischen Sonderproblems, Nordirland. Dessen mehrheitlich katholischen Bewohnern wird (anders als der aus England und Schottland stammenden, im 17. Jahrhundert neu angesiedelten protestantischen Oberschicht) keinesfalls die integrativ gemeinte, positiv konnotierte Bezeichnung Britons of the West, etwa in Analogie zu den Britons of the North, angetragen; vielmehr werden sie unter Verwendung negativer Attribute gezielt ausgegrenzt:
Sir, I Thank you for inserting a Letter which was written by a Brother Englishman of mine born in Dublin; for so was I, and have passed my Youth in Arms, for the Glory and Honour of the English Name. The English Protestants of that Kingdom have, ever since the Settlement there, behaved themselves in such a manner, as might very well have exempted them from that barbarous Distinction of being called Irish. Pray, Sir, go on to shew the Britons, that it is not their Business to make narrow their Interests, by alienating those who have as undoubted a Title to the Character of Britons as themselves [...]. (67)
Die Konstruktion von Englishness versus Britishness macht deutlich, wie sehr beim Entwurf eines nationalen Profils Grenzziehungen nach außen (etwa gegenüber Frankreich) und nach innen (gegenüber Schottland, Irland) einander beeinflussen; zugleich, in welchem Maße die verschiedensten Textgattungen (etwa journalistische und literarische) wechselseitig aufeinander bezogen sind. Das Beispiel Thomson zeigt außerdem, daß neben der politischen Großwetterlage auch regionale Sonderidentitäten zur Modifizierung gängiger Argumentationsmuster beitragen können.
Nicht nur Schotten und Nordiren, sondern die verschiedensten Mitgliedsanwärter eines territorial erweiterten und aufgrund dynastischer Verbindungen zum Kontinent (etwa Holland) zusätzlich durch fremdstämmige Einwanderer bevölkerten Großbritanniens mußten sich im Zeitalter zunehmender englischer Nationalisierungsbestrebungen gegen chauvinistische Anfeindungen verteidigen. Auf solche feindseligen Ausgrenzungsversuche, die sich selbst in literaturkritischen Schriften zu einer regelrechten Fremdenfeindlichkeit steigern können, (68) reagiert im Feld der Literatur 1701 erstmals eine kritische Gegenstimme; sie gehört Daniel Defoe, der die nationalistische Hysterie mit einer Verssatire bekämpft und seine Zeitgenossen an die kulturelle Bereicherung Englands durch Immigranten erinnert:
But when I see the Town full of Lampoons and Invectives against Dutchmen, Only because they are Foreigners, and the King Reproched [sic] and Insulted by Insolent Pedants, and Ballad-making Poets, for employing Foreigners, and for being a Foreigner himself, I confess myself moved by it to remind our Nation of their own Original, thereby to let them see what a Banter is put upon ourselves in it; since speaking of Englishmen ab Origine, we are really all Foreigners our selves.
I could go on to prove, 'tis also Impolitick in us to discourage Foreigners; since 'tis easie to make it appear that the multitudes of Foreign Nations who have taken Sanctuary here, have been the greatest Additions to the Wealth and Strength of the Nation [...] Nor would this Nation have ever arriv'd to the Degree of Wealth and Glory, it now boasts of, if the addition of Foreign Nations, both as to Manufactures and Arms, had not been helpful to it. (69)
Zugleich geht er mit populären Abstammungsmythen ins Gericht, die auf einem zweifelhaften Konzept von ethnischer Reinheit basieren, und kontrastiert sie mit dem zwar hyperbolisch zugespitzten, prinzipiell jedoch positiv konnotierten Gegenmodell vom ethnischen und kulturellen melting-pot:
Thus from a Mixture of all Kinds began,
That Het'rogeneous Thing, An Englishman:
In eager Rapes, and furious Lust begot,
Betwixt a Painted Britain and a Scot.
Whose gend'ring Off-spring quickly learn'd to bow,
And yoke their Heifers to the Roman Plough:
From whence a Mongrel half-Bred Race there came,
With neither Name nor Nation, Speech nor Fame.
In whose hot Veins new Mixtures quickly ran,
Infus'd betwixt a Saxon and a Dane.
While their Rank Daughters, to their Parents just,
Receiv'd all Nations with Promiscuous Lust.
[...]
The Western Angles all the rest subdu'd;
A bloody Nation, barbarous and rude:
Who by the Tenure of the Sword possest
One part of Britain, and subdu'd the rest.
And as great things denominate the small,
The Conqu'ring part gave Title to the whole.
The Scot, Pict, Britain, Roman, Dane submit,
And with the English-Saxon all unite:
And these the Mixture have so close pursu'd
The very Name and Memory's subdu'd:
No Roman now, no Britain does remain;
Wales strove to separate, but strove in vain:
The silent Nations undistinguish'd fall,
And Englishman's the common Name for all. (70)
Defoe gelingt damit nicht nur eine geistreich-witzige und zugleich überzeitlich-gültige Absage an nationalistisch argumentierende Fremdenfeindlichkeit; vielmehr scheint seine mutige und an der Wende zum 18. Jahrhundert noch isoliert wirkende Stellungnahme bereits auf die im Laufe der dritten untersuchten Phase sichtbare Tendenz vorauszudeuten, eine primär nach außen gerichtete negative Abgrenzungsidentität durch stärker nach innen gerichtete, integrative Selbstbilder zu ersetzen. Es ist nicht auszuschließen, daß Defoes Betonung der multikulturellen Wurzeln Englands und seine ungewohnt positive Bewertung ethnischer Fremdeinflüsse für Thomsons späteren Entwurf einer nationalen Einheit in der Vielfalt, d.h. eines Großbritanniens aus kulturell gleichberechtigten Engländern, Schotten, und anderen Volksgruppen in dem Gedicht Liberty sowohl produktions- als auch rezeptionsseitig den Boden bereiten half. (71)
Auch wenn für Defoe (anders als für Thomson) die primäre Motivation nicht im Vermittlungsversuch einer kollektiven, regional-kulturellen mit einer national-politischen Identität besteht, sondern von einer stärker durch individuelle Interessen bestimmten Parteinahme des Verfassers für den holländisch-stämmigen König William III ausgegangen werden muß, (72) ist Defoes expliziter Verweis auf den Fiktionscharakter jeglicher nationaler Wesensbestimmung in ihrer Modernität kaum zu überbieten:
A True-Born Englishman's a Contradiction,
In Speech an Irony, in Fact a Fiction.
A Banter made to be a Test of Fools,
Which those that use it justly ridicules.
A Metaphor invented to express
A Man a-kin to all the Universe. (73)
Was auf den ersten Blick nach radikaler Mythenzerstörung aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen allerdings vornehmlich als Kritik an den xenophob-nationalistischen Auswüchsen, die keinesfalls mit einer totalen Hinterfragung des überkommenen kollektiven englischen Selbstverständnisses gleichzusetzen ist. Daß die Berechtigung für einen moderaten Nationalstolz nicht in Abrede gestellt wird, deutet bereits der Verweis auf England als Zufluchtsstätte ("sanctuary") für politisch und konfessionell verfolgte Kontinentaleuropäer in seinem oben zitierten Vorwort an, der indirekt den Topos von der England-spezifischen politischen Freiheitsliebe affirmiert. Auch ansonsten bedient sich Defoe geläufiger Argumentationsmuster, um sie dann zu einer anders akzentuierten Gesamtbewertung zu verbinden. Dennoch kommt es nicht zu einer grundsätzlichen Umdeutung vertrauter Einzelelemente. Im Gegenteil werden alle bewährten Identifikationsfelder, vom Nationalcharakter über die Nationalgeschichte, Nationalsprache, Staatsreligion und Regierungsform bedient, allerdings (mit Rücksicht auf die literarische Sondergattung) in satirisch-didaktischer Absicht mit betont negativen Vorzeichen versehen. So stellt Defoe etwa analog zum traditionellen Tugendkatalog einen Katalog nationaler Untugenden auf, stilisiert die - ebenfalls topische - Ahnengalerie verdienter historischer Persönlichkeiten um zu einer anti-heroischen Ansammlung von Räuber- und Lumpenpack und schreckt selbst vor einem Angriff auf die sakrosankte englische Freiheitsliebe nicht zurück, um seinen Landsleuten die Absurdität und auch die Gefahren eines krankhaft übersteigerten Nationalbewußtseins vor Augen zu führen: (74)
Their Liberty and Property's so dear,
They Scorn their Laws or Governours to fear:
So bugbear'd with the Name of Slavery,
They can't submit to their own Liberty.
[...]
A discontented Nation, and by far
Harder to rule in Times of Peace than War: (75)
Defoes Verssatire verdeutlicht noch einmal die besondere Leistung von Literatur: in weitaus höherem Maße als stärker institutionalisierte Aussageformen spezialisierten Wissens (etwa im Bereich der Politik oder der Historiographie, aber auch der Literaturkritik und des literarischen Journalismus) gelingt es ihr, den nationalen Diskurs nicht einfach aufzunehmen oder 'widerzuspiegeln', sondern ihn kritisch zu reflektieren, provokativ zu hinterfragen und so einen aktiven und konstitutiven Beitrag zur Konstruktion kollektiver Identität zu erbringen; Defoe im Zusammenspiel mit Thomson zeigt weiterhin, daß literarische Texte als Austragungsort nationaler Selbstfindungsprozesse durch einen ungleich höheren Grad an Heterogenität und Meinungsvielfalt charakterisiert sind. (76) Gerade wegen ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit sind Defoes De-Konstruktion und Thomsons Re-Konstruktion des englischen bzw. britischen Nationalcharakters besonders geeignet, den Konstruktcharakter kollektiver Identitätsentwürfe bewußt zu machen und ihren Lesern damit auch mehrere Jahrhunderte später noch mehr zu sein, als Dokumente von rein zeithistorischem Interesse.
Anmerkungen